Prinzipien
Anmerkungen zum
“Prinzip Montage/Collage”
in den Arbeiten von Hans Gerlhof
von Univ. Prof. Wulf Schomer, Minden
"Heute Morgen habe ich den Ort aufgesucht, wo die Straßenreinigung den Müll ablegt. Mein Gott war das schön."
Dieser Ausspruch stammt nicht von Kurt Schwitters, auch nicht von Hans Gerlhof, sondern von van Gogh! Van Gogh, einer der Väter der Moderne, ohne die es niemals einen Schwitters oder einen Tapies gegeben hätte, um einige große Materialbildner zu nennen, sagte solches sicherlich auch deshalb, weil gerade er Alltägliches, Unwichtiges und Wertloses stets mit besonderer Aufmerksamkeit wahrnahm.
Vielleicht aber war es auch die Vorliebe für Strukturen, Fakturen und Texturen, die ihn, den großen Erfinder des Strukturalen in der Malerei, zu derartigen Worten verleitete. Fast 30 Jahre nach van Gogh's Tod fügte Schwitters um 1919 in seine Bilder bereits Wellpappe, Staniol, Zeitungsausschnitte und Fahrkarten ein; in seinem großen "Ichbild" von 1919 sind die Bestandteile: Holz, Draht, zerbrochene Reifen und zerbeulte Räder verwendet worden. Seine sogenannte "Merz"-Malerei bediente sich nicht nur des Pinsels und der Farbe, sondern vor allem aller vom Auge wahrnehmbaren Materialien und aller erforderlichen Werkzeuge. Dabei war es unwesentlich, ob die verwendeten Materialien schon für irgendeinen Zweck geformt waren oder nicht. Das Drahtnetz, der Bindfaden, das Blech-stück, das Kinderwagenrad sind nun der Farbe gegenüber gleichberechtigte Faktoren. Der Künstler schafft durch Wahl, Verteilung und "Entformung der Materialien".
Bei der "Merzkunst" - einer wichtigen Wurzel auch des Gerlhofschen-Arbeitens - wird der Kistendeckel, der Zeitungsausschnitt, die Spielkarte zur "Fläche", Bindfäden, Pinselstrich oder Blechstreifen werden zur "Linie", ein Drahtnetz wird zur "Lasur" ... All diese eigentlich absurden Materialien bringt Schwitters in ausgewogene, fast mathematisch wirkende Kompositionen; Rechtecke und Kreise bilden Gerüste, die seine Bilder beherrschen. Die Abfallprodukte der Zivilisation wirken nun kostbar, das an und für sich Wertlose bekommt durch den Akt der Transformation eine eigene Schönheit und Kostbarkeit; poetische Zusammenhänge werden geschaffen, der stoffliche Reiz der verschiedenen Materialien in der Komposition spricht den Betrachter direkt an. Schwitters Montagen und Collagen - die Übergänge zwischen beiden Medien fließen - sind jedoch im Vergleich zu den Collagen der Dadaisten nicht agitatorisch oder destruktiv, sondern, wie Eberhard Rothers es formuliert, "Magie!"
An diesen Wurzeln muß sich heute der Zeitgenosse Hans Gerlhof messen lassen, arbeitet er doch in einer künstlerischen Grundhaltung und nach einem künstlerischen Denkprinzip, das dem Schwitterschen nicht unverwandt ist.
"Eine Montage vereinigt in einer Komposition Elemente, die aus der zivilisatorischen Umwelt stammen, Spuren einer Bearbeitung tragen und also gesellschaftlich vermittelt sind...", so ein Kunstwissenschaftler aus den gesellschaftskritischen 70er Jahren. Montage/Collage, ein ehemals - denken wir an Dada - bewußt unbürgerliches, ja provozierendes Antikunstbildmedium, das in Europa und Rußland provokativ vorgetragen wurde, ist hier bei Gerlhof in ruhigere und vorwiegend ästhetisierte Bahnen gelenkt. Montage/Collage, eine Denkstruktur und Verhaltensweise, die uns seit der Erfindung durch Picasso und Braque um 1911 nicht losgelassen hat, die kontroverse Richtungen zwischen politischer Radikalisierung und bürgerlicher Harmonisierung - im Sinne von Affirmation des Bestehenden - durchlaufen hat.
Dazu ein Zitat von 1923 aus Rußland: "Die Montage - das ist der höchste Ausdruck der Bearbeitungsfertigkeiten; er sollte für ein Kulturverständnis typisch sein, wie wir es brauchen; ein Verständnis einer Kultur, deren Träger die jungen Menschen unserer Arbeiter- und Bauernrevolution sein müssen ...", so Aleksej Gastev schon in den Zwanziger Jahren. Und, hören wir Adorno aus den kritischen 70er Jahren: "Der Schein der Kunst soll zerbrechen, indem das Werk buchstäbliche, scheinlose Trümmer der Empirie in sich einläßt, den Bruch bekennt und in ästhetische Wirkung umfunktioniert..." (Frankfurt 1970).
Versöhnlicher und weniger aufrührerisch ein anderes Zitat eines Kunstwissenschaftlers aus den 80er Jahren: "Collage/Montage transportiert vorgegebene, zivilisatorisch vermittelte Realität in eine neu zu konstituierende Kunst-welt ..., Montage/Collage umgreift schließlich nicht nur Einzelgegenstände, sondern ganze Umwelträume, Handlungsabläufe und menschliche Aktionsmuster ..." Sehr allgemein, aber um so treffender, noch eine Aussage Adornos von 1970: "Der Microstruktur nach dürfte alle neue Kunst Montage heißen ...". Womit nun auch für Menschen wie Hans Gerlhof, die sicherlich nicht zu den politischen Agitatoren zählen, wieder die Chance eröffnet ist, sich in den gemäßigten Bahnen der Montage, die vorwiegend von rein künstlerischen und bildnerischen Erwägungen geleitet ist, zu bewegen...
Und so wirkt Hans Gerlhof, indem er zunächst Wirklichkeitsfragmente sucht und sie sammelt, denn das Sammeln ist die individuell sehr unterschiedliche Vorgeschichte der Montage; hier sammelt Gerlhof gänzlich anderes als zum Beispiel Schwitters es getan hat. Er sammelt Realitäten, die das Auge ertastet, textile, taktile und fakturelle Realitäten. Unterschiedliche strukturale, also vom Baugesetz und der Entstehung her, verschiedenartige Realitäten, wie auch nur Gegenständlichkeiten, die reizvolle differierende oberflächliche Materialbeschaffenheiten besitzen: Glattes, Raues, Gerastertes usw. Sie sind die fakturellen Reizmuster, denen der Sammler Gerlhof nachspürt. Ich nenne sie hier einfach "Realien", also etwas, das auch mit Erinnerungs- und Erlebniswelten verbunden sein kann und deshalb beim Betrachter durchaus auch emotionale Reaktionen wecken kann, welche dann aber in der Ganzheit des Materialbildes einen intellektuellen Prozeß in Gang setzen sollen!
Für den am traditionellen Bild geschulten Betrachter mögen derartige Realitätsfragmente - teilweise sind es ja Unsäglichkeiten - vielleicht als Fremdkörper im Bild erscheinen; das hat zur Folge, dass die Geschlossenheit des traditionellen Bildes, und dies war eine der Errungenschaften der beginnenden Moderne, zerbrochen wurde, ein Verzicht, der andererseits aber neue autonome und ungewohnte Bildwirklichkeiten erst ermöglichte ... Da ist also zunächst das Material, der Künstler Gerlhof sucht und findet es nach den Prinzipien des Zufalls und der Absicht, er verbindet es neu, artikuliert und steigert es in experimentellem wie auch kalkuliertem Verhalten. Beides muß vorhanden sein!
Findet er ein Materialfragment, das von sich aus viel erzählen könnte, wie es vielleicht ein verbrauchtes Werkzeug kann, dann verzichtet er größtenteils und völlig auf jene narrativen Möglichkeiten einer Anekdote. Statt dessen speist sich der Inhalt seiner Materialbilder stets aus dem kalkulierten Akt einer dominant bildnerischen Fügung, die nicht auf das
Erzählerische baut, sondern ganz einfach einprägsame Bildwirklichkeit sein will. So werden nun Textur, Faktur und Struktur in Verbindung mit strengen kompositorischen Erwägungen unweigerlich zu den alleinigen Trägern seiner Botschaften, seiner Bildgehalte.
Reine Materie, die wahrnehmbare Wirklichkeit des Fragmentarischen selbst, wird im Materialbild in einen kompositorischen Zustand versetzt, der ihr eine neue, jetzt objekthafte und nicht mehr nur fragmentarisch erfahrbare Wirklichkeit verleiht! Seine Kunst charakterisiert sich dadurch, dass sie die Materie durch sich selbst zum Ausdruck kommen läßt, denn philosophisch gesehen, ist Gerlhof Materialist, d. h. außerhalb der Materie - auch in ihrer ästhetisierten Form - existiert nichts! Man mag fragen, ob dies nun eine Abwendung von der Wirklichkeit unserer Tage oder geradewegs andersherum eine Hinwendung zur dominant materiellen Existenz der Tageswirklichkeit bedeutet. Ist dies eine Flucht aus dem, was uns als soziale, politische, gesellschaftliche und individuelle Wirklichkeit umgibt, oder sollte man - wie einige meinen - diese innige Zuwendung zu einer Ästhetik des Verfalls, zu einer Würdigung des Unnützen metaphorisch besetzen? Etwa in dem Sinne, dass Gerlhof sich mit philosophischen Fragen nach der Vergänglichkeit allen Seins befaßt? Ist dies seine Botschaft? Oder lassen sich seine Inhalte mehr auf rein künstlerisch-immanenter Ebene im Formalen verorten? Ist er an Konkretionen, also an Vergegenständlichungen von Wirklichkeiten interessiert, die vorher so noch nicht in der Welt waren? In der Poesie der Strukturen, des eigentlich Banalen - nämlich des Weggeworfenen, Wertlosen und Vergessenen - im Blick auf das Alltägliche, auf das verwertete Gesicht unseres Alltags, macht sich allerdings auch eine Art Vorliebe der phänomenologischen Philosophie unseres Jahrhunderts bemerkbar, die ihre Sicht gern auf die sogenannte Lebens- und Wirklichkeitserfahrung, wie auch auf die "Dinge an sich" lenkt. Auch deutet sie Materialbilder als Reaktion auf die verschiedensten zeitbedingten Entfremdungen, durch die der Mensch sich selbst zu verlieren droht, als eine Kritik an den falschen Werten des Komforts, an der Überzivilisation und am rasch entfremdenen Fortschritt!
So bekannte sich schon 1967 der große "Materialist", Materialbildner und Informelle Tàpies zur Ablehnung des Pharisäertums und des einseitigen, sogenannten "Idealismus" der westlichen Kultur mit ihrer inzwischen noch stärker radikalisierten Tendenz zu Anonymität und Standardisierung.
Während die einen bei Materialbildern dieser Art nur schlicht von einem Angebot neuer physischer und visueller Effekte mit dem Ziel einer erweiterten sinnlichen Wahrnehmung sprechen, bringen andere tiefe philosophische Bezüge ein: von Sein und Werden, von Vergänglichkeit und Vanitas. Auch mag man die Auseinandersetzung mit der ästhetischen Wirklichkeit wertlosen Materials als Reaktion auf eine Gegenwart interpretieren, die im glatten, hochgestylten Design und in dekorativen malerischen Gefälligkeiten ertrinkt.
"Schaut hin, schaut ganz genau hin und laßt euch einfach von allem mitreißen, was sich euren Augen bietet und ein Echo in euch erzeugt...!", rät der große Materialbildner und Informelle Tàpies. Und so sehen wir bei Gerlhof z. B. im Materialbild 209 eine starke Mehrschichtigkeit von einer aufgerissenen Sperrholzplatte, die materiell wie auch inhaltlich das Prinzip der Schichtung thematisiert. Der obere Bereich der geöffneten Platte ist zerrissen, er deckt die Struktur des richtungsmäßig gegensätzlich gefügten und verleimten Materials auf und verlockt das Auge durch kontrastreiche Kanten, Abstürze, Vorsprünge, Verwerfungen und gegensätzliche Strukturverläufe. Auf die Platte montiert ist ein flaches Formgebilde aus schwärzlichem Blech bestehend. Es scheint markant mit roten Ringen "aufmontiert", während es zwischen seinem Ober- und Unterteil gewissermaßen mitten in sich ein technoides Gebilde besitzt, das noch von seiner ehemaligen mechanischen Funktion zeugen kann. Festgenietet ist ein türartiges Gebilde, das uns - so scheint es jedenfalls - nur für kurze Zeit Einblick gewähren will in dieses innere Leben einer flachen "Formfigurine", die hier selbst dem montagehaften Prinzip der Schichtung gehorchen muß. Beide Flächenelemente, die aufgebrochene Substratfläche und die sogenannte Figurine, sind größtenteils von einer dunklen Randleiste umgeben, die der Künstler meisterlich patiniert und malerisch raffiniert behandelt hat. So erschafft er gleichzeitig einen verdunkelten Raumstreifen, wie eine Grenze nach außen, um diese Schichtung herum. Andererseits öffnet er in der Randzone durch rötliche Kreisformen im dunklen Graben den Flächenraum und zeigt, dass unter jenen Überlagerungen nochmals etwas anderes existiert, nämlich ein diffuser tiefreichender Raum! Heterogenes Material ist aneinandergeraten: Holz trifft auf Blech, Eisen auf Sand, kleinteilig Mechanoides auf grob Zerstörtes, Heiles auf Deformiertes, Destruiertes, Zerbrochenes, Verformtes auf bewußt Gefügtes, Wertloses auf scheinbar Wertvolleres, malerisch Behandeltes auf die Restenergien von Unbehandeltem, usw. usw.
Die Zustände, bzw. die unterschiedlichen Eigenschaften des Materials selbst, sind so vielfältig, wie die Neukonstellationen und Konfigurationen ihrer gestalterischen Synthesen: Destruiertes, Abgerissenes, Abbröckelndes, Verformtes, Zerbrochenes, Aufbereitetes, Vergessenes, Wertloses, Vertrautes, Weggeworfenes, Entleertes, Verbrauchtes, Vorgedachtes, künstlerich Überarbeitetes und Intensiviertes, etc. etc.!
Technisch gesehen, gerät ebenso vieles aneinander: Geklebtes, Geschraubtes, Genietetes, Gestanztes, Geriebenes, Gewischtes, Gekratztes, Gezeichnetes, Kopiertes, Bedrucktes, Gedrucktes, Gerissenes, Verbranntes, Zerknülltes, Geschnittenes ..., kurz und bündig gesagt: Die ganze Fülle von Materialitäten verschiedenster Eigenschaften und Genese, die unermeßliche Verschiedenheit materieller
Zuständlichkeiten unserer zivilisatorischen Umwelt - denn sie ist das "Bindeglied" dieser unglaublichen Fülle der Phänomene und ursprünglichen Funktionen - wird vom Künstler aufgespürt, aufgenommen, aufmontiert und aus ihren ursprünglichen Kontexten herausgelöst ..., das ist die erste Vorbedingung!
Der Macher von Materialbildern muß äußerst wachen Auges derartige Zufälligkeiten und Reize von Realien wahrnehmen und erkennen. Er muß den Mut aufbringen, sie sowohl zu zerstören, wie auch in ungewöhnliche Verbindungen hinüberzuführen. Er muß frei sein von Konventionen und Regeln, spontan, intuitiv und gleichzeitig kontemplatorisch vorgehen: handelnd denken und denkend handeln; nicht fragen, sondern beginnen! Das Prinzip Montage erfordert einen äußerst flexiblen Künstler, der in Bewegung ist und es auch bleibt! Was will dieses Prinzip Montage? Auch hier gibt es so viele Antworten, wie sie die jeweiligen materiellen Zustände in ihren vielschichtigen Konglomerationen in sich tragen: Es gibt keine festen Regeln, kein eindeutig festgelegtes Fügungs- bzw. Formprinzip für dieses Vorgehen. Eigentlich ist alles möglich, Montage ist ein voraussetzungsloses Prinzip, das mit allem etwas anfangen kann! Hier, am Beispiel Gerlhofs, vor allem mit jenen Dingen, die sich unserer üblichen Betrachtung längst entzogen haben: "Mit meiner Arbeit halte ich fest, was mit der Zeit verloren geht", sagt der Künstler selbst. Im Prinzip Montage ist gerade all das möglich, was außerhalb bisheriger Möglichkeiten passieren kann. Man kann alles versuchen und muß bereit sein, stets Grenzen zu überwinden. Dies geschieht sowohl unter dem Prinzip des Zufalls, wie aber auch unter dem der Absicht. Beides ist stets bei Gerlhof vorhanden: Ambivalenzen bestimmen seine Arbeit! Es geschieht auf rein formaler Ebene mit technischen und gestalterischen Mitteln, wie auch auf der Ebene der Bedeutung, indem ehemals Vorhandenes übernommen wird oder alte Funktionszusammenhänge neu interpretiert, umgestaltet und transmutiert werden. Auch die Ebene der Assoziation bzw. Konnotation ist beteiligt: Was schwingt mit in unserer Wahrnehmung, wenn wir einen roten, kreisförmigen Lackring auf einem schwarzen Blechring wahrnehmen?
Die Art und Weise der neuen Verbindungen ist vielschichtig, vielfältig und damit auch polyvalent, also verschiedenen Bedeutungen, wie auch verschiedenen ästhetischen Wirkungsweisen gegenüber, offen. Es wird montiert, destruiert, integriert und desintegriert. Es entstehen Konglomerationen, Überlagerungen, Konfrontationen etc., damit wird ehemals Vertrautem der sichere Boden bisheriger Eindeutigkeiten entzogen. Polyvalente, mehrschichtige Inhalte werden geschaffen, Material wird in eine andere Wesenheit und Existenz transformiert. Es entstehen Affinitäten durch künstlerisch herbeigeführte Wesensverwandtschaften und durch reflektierte Gegenüberstellungen von Inkohärentem. Das Heraustreten aus der Sphäre des Gewohnten kann Provokation erzeugen: was hat in der Collage "Kopfbilder" die Zeichnung von Dürer's Mutter - dieses christlich besetzbare Gleichnisbild, in dem Mitleid und Liebe die Hand des Künstlers Dürer führten - mit einer computeranimierten Treppenschablone zu tun?
Was stößt Gerlhof inhaltlich an, wenn er in derartigen Arbeiten über die Ästhetisierung des Materials hinausgeht? (Die in dieser Collage in Form eines spitzen Keils eingefügten Bildzitate von Dürerzeichnungen scheinen einzudringen in die von ihm ästhetisierten Collagebereiche, während kleine Porträts von Zeitgenossen nur noch winzig durch poröse Oberflächen hindurch wahrnehmbar sind)...
Legt er in einigen Werken die Priorität mehr auf das rein Künstlerische, so gibt es andererseits auch Arbeiten, die inhaltlicher ausgerichtet sind. Dialektisches, Gegensätzliches entsteht, Ambivalenzen, Doppelwertigkeiten beherrschen sein Tun. Schon das einfache Setzen eines Materialfragmentes in einen bildnerischen Zusammenhang kann doppelwertig ja auch doppelbödig sein: es steht für sich als materielle Substanz, wie aber auch gleichzeitig als bildnerisches Element im Kontext zu anderen Substanzen und Elementen. Es mag sowohl selbst nichts aussagen wollen, als aber auch auf Inhaltliches anspielen. Darin liegt ein großer Reiz dieser Arbeiten.
In uns werden Veränderungen des Bewußtseins hervorgerufen, Fakten des Alltäglichen umgewandelt, neue Fakten evoziert, Tabus können gebrochen werden, bisher nicht Gesehenes kann plötzlich sichtbar werden. Logisches, rationales Denken kann durch bildnerisch-gestalterisches Denken überwunden, Erstarrungen des Sehens und Wahrnehmens von äußerer wie innerer Realität können aufgelöst werden. Die Welt des Materiellen wird in eine neu konstituierte, autonome Kunstwelt transformiert...! Dieses scheint mir einer der Kerne Gerlhofschen Arbeitens und Denkens zu sein. Es bietet ungewohnte Einsichten in zivilisatorische Vorgänge, weil sich jene analog verhalten zu den Arbeitstechniken der Montage/Collage; nämlich im Sinne einer weltbewältigenden Betrachtungsweise, denn viele der geschilderten Arbeitstechniken und Verhaltensweisen innerhalb des Prinzips Montage haben unmittelbar und direkt mit unserer zivilisatorischen Umwelt zu tun. Außerdem verstärkt das Prinzip Montage die Apperzeption des Betrachters, es verstärkt das bewußte und urteilende Erfassen dem Werk gegenüber, von Wahrnehmungsinhalten und Denkinhalten. Es fordert eine unmittelbare Wahrnehmung, nicht die Literatur eines Textes oder den Glauben an vorgefaßte Bedeutungsebenen oder an inhaltliche Festsetzungen. Dies zeigt sich auch im Verzicht Gerlhofs auf Bildtitulierungen. Die keilschriftartige römische Durchnummerierung ohne Null muß reichen!
Mit den Montagen, wie auch mit den gemalten, abgezogenen und abgeklatschten Arbeiten der Dekalkomanien, er nennt sie "Phantasmagorien", regt Gerlhof den Betrachter zur wahrnehmenden Aktion an, er setzt ihn in Bewegung, zwingt ihn zum Umdenken, Umdeuten, Umbauen, zum Transformieren von Gewohntem in ungewohnte Denkzusammenhänge. (Er deutet Räume struktural an, besetzt sie mit Fließstrukturen und wandelt sie sofort wieder um in transparente, nun formlose Farbräume). Hier ist das malerische Denken und Tun dem montagehaften Arbeiten mit Realien "affin"! Seine Arbeiten beziehen den Betrachtungsvorgang unmittelbar mit ein, das ist ein Postulat der Moderne! Dabei entstehen im Verhalten des Betrachters Veränderungen dem Werk gegenüber: Die Frage nach seiner Herstellungsweise mag teilweise sogar wichtiger werden als das fertige Werk selbst, dieser Vorgang kann zumindest teilweise beobachtet werden. Das Werk als neue Realität erhebt sich vom illusionierten Bildgegenstand zum völlig eigenständigen Gebilde; es überschreitet die Grenze vom Scheinbild zum realen Objektbild. Der Zusammenhang zwischen Kunst und Wirklichkeit - auch eine Forderung der Moderne - wird intensiviert. Die Verdinglichung im Montagebild führt zur Annäherung der Kunst an die zivilisatorische Umwelt, womit eine Grundhaltung des Künstlers skizziert ist, die sich als Prinzip durch die gesamte Moderne zieht. Für Hans Gerlhof, diesen äußerst aktiven und in der Folge seines Werkes besonders konsequenten Künstler, gibt es nichts Reales, das nicht auch Element, Akteur und Inhalt seiner Montagen und Materialbilder werden könnte.
Der "visuelle Provokateur" seiner Wirklichkeiten ist das Materielle, diese Realität besitzt für ihn, wie für uns, die stärkste evokative Qualität. Öffnen wir uns der Vielfalt jener materiellen Phänomene und Wesenheiten, wie auch der Fülle an bildnerischen und inhaltlichen Neufigurationen und Gehalten!
"Affinitäten" nannte Gerlhof seine vorletzte Ausstellung und verwies damit auf Wesensverwandtschaften zweier Größen und die dadurch bewirkte Anziehung, auf Grenznähen, Berührungspunkte und Verbindungsmöglichkeiten. Affinität ist nach Kant der "Grund der Möglichkeit der Assoziation des Mannigfaltigen, sofern er..." - und hier ist Kant bereits nah am Prinzip Montage - ... "im Objekte liegt ..."! Was nun wiederum in der derzeitigen Präsentation überzeugend zu erfahren ist.